Samstag, 18. Juni 2011

Mercurius

Den ganzen Tag bin ich durch das Schloss gelaufen, aber mir ist weder etwas auf- noch eingefallen. Ich habe Hunger. Was soll’s, das hier sind auch nur Menschen und keine Ungeheuer, die werden mich ja wohl nicht verhungern lassen. Kurz entschlossen gehe ich zurück zum Thronsaal. Es hat sich nicht viel verändert, nur dass Heinrich jetzt an einer reich gedeckten Tafel sitzt und sich gerade eine gebratene Taube hinter die Kiemen schiebt. Neben und hinter ihm ein paar seiner Frauen, die ihn bedienen, ihm vorlegen, die Happen mundgerecht schneiden. Der Rest ist, wie gehabt, mit Rußfangen und Schrubben beschäftigt. Die Frauen sehen unendlich müde aus, sie bewegen sich wie im Traum. Als ich an den Tisch trete, beachtet mich der Mann gar nicht, nur die Mundschenkinnen werfen mir lauernde Blicke zu.

Laut und deutlich wünsche ich einen guten Appetit. Er wirft mir einen flüchtigen Blick zu: "Was gibt’s?"
"Ich habe Hunger, ich will essen."
Fast hätte er sich an einem Taubenbeinchen verschluckt. Er starrt mich verblüfft an: "Dann iss doch!"
"Danke!"
Strahlend setze ich mich und greife herzhaft zu, doch schon haben mir die Mundschenkinnen mit vereinter Kraft meine Beute wieder entrissen. Eine versucht sogar, mich vom Stuhl zu schubsen.
"Wenn du essen willst, arbeite!" fauchen sie wie ein Erinnyenchor.

"Hey! Ich habe H-u-n-g-e-r!"
Heinrich starrt mich unverändert mit geöffnetem Mund an. Ein Stück Fleisch fällt zurück auf den Teller.
"Du vergreifst dich an MEINEM Essen? Du setzt dich einfach in MEIN gemachtes Nest? Das ist doch... das ist doch...", stammelt er mit hochrotem Kopf. "Raus mit dir, Abtritte putzen!! So eine Unverschämtheit ist mir noch nicht untergekommen! VERDIENE dir dein Essen, wenn du Hunger hast! JEDER muss sich sein Essen verdienen! Glaubst du, ich habe einen Goldesel im Keller?!"
"Oh! Du verstehst mich falsch!" rufe ich, stehe auf und verbeuge mich. "Nie im Leben wäre es mir in den Kopf gekommen, Essen zu stehlen! Selbstverständlich will ich dafür bezahlen. Es ist nur..."
Er schaut mich misstrauisch an. Die Erinnyen sind zu Steinsäulen erstarrt.
"Nur - was?"
"Nun..." Ich schaue mich um. "Du bist doch ein kluger Mann."

Er entspannt sich ein wenig, was man von den Erinnyen eher nicht behaupten kann.
"Freilich bin ich das, dazu bin ich schließlich ein Mann, höhö!"
"Also bist du doch ganz bestimmt der überaus vernünftigen Ansicht, dass jeder die Arbeit tun sollte, für die er am besten geeignet ist."
Er nickt ungeduldig: "Ja, freilich. Komm zur Sache, Weib!"
"Nun, siehst du, ich könnte dir deine Gastfreundschaft tausendfach vergelten, aber nicht mit Abtritt putzen..."
Ein breites Grinsen überzahnt sein Gesicht: "Bist du endlich zur Vernunft gekommen? Also, ab in die Wanne!"

"Du missverstehst mich immer noch. Ich kann etwas, was dir keine deiner Frauen hier geben kann. Dafür brauche ich keine Wanne, nicht einmal hübsche Kleider."
Er schaut etwas irritiert: "Etwas Besseres als Essen und Sex?"
Ich nicke: "Viel besser. Etwas, was dein Leben verändern wird - wenn du es willst. Aber vielleicht bist du ja auch glücklich in deiner Langeweile, deiner rußigen Burg und mit tagein, tagaus demselben öden Geplapper?"

Sieben Augenpaare funkeln mich an, so dass ich mir hastig überlege, ob ich einen Spiegel dabei habe. Aber Heinrich wird plötzlich lebhaft. Er schluckt endlich die arme Taube hinunter und beugt sich mit einem kräftigen Rülpser vor: "Nein, ich habe es gründlich satt, weiß der Teufel! Du kannst dir gar nicht vorstellen, WIE langweilig mir manchmal ist, wie sehr mir die hübschen Frätzchen mit ihrem geistlosen Geschwätz auf die Nerven gehen, wie mir die stumpfen, mürrischen Gesichter meiner Dienerinnen auf den Magen schlagen! Deine Worte klingen nach Spaß, nach Abwechslung und Aufregung! Also: Was brauchst du?"
"Musikinstrumente und Musikanten."
Er schaut mich entgeistert an: "Musik... ? So etwas haben wir hier nicht."
Ich lächle: "Das dachte ich mir. Aber in meiner Welt gibt es genug davon. Ich lade euch alle ein, mit mir einen Ausflug in meine Welt zu unternehmen..."
Die Medusenblicke verlieren etwas an Schärfe.

"Wo ist deine Welt?"
"Gleich hinter den Toren deiner Burg! Es ist gar nicht weit, wir werden bald dort sein. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wir uns amüsieren werden! Wir werden musizieren, singen und tanzen, bis uns die Schuhe von den Füßen fallen. Wir werden essen und trinken, scherzen und lachen und herrliche Spiele spielen!"
Seine Augen nehmen einen seltsam sehnsüchtigen Glanz an.
"Aber unter einer Bedingung", füge ich fest hinzu.
"Eine Bedingung?..."
Ich habe ihn schon lange dort, wo ich ihn haben wollte.
"Es müssen ALLE mit! Alle Menschen, die hier in deinem Schloss leben und arbeiten! Nur so wirst du nie wieder mürrische Gesichter sehen müssen. Und du wirst doch nicht ohne Hofstaat verreisen wollen, oder?" zwinkere ich ihm verschwörerisch zu.

Er strahlt über alle Backen, und - siehe! - sogar die Erinnyen sind zu Grazien geworden, und eine Putzfrau nach der anderen erhebt sich und streift sich erwartungsvoll die Hände am grauen Kleid ab, während die Ersten nach draußen laufen, um die aufregende Neuigkeit im ganzen Schlosshof zu verkünden.

"ÖFFNET DIE TORE!" ertönt donnernd der Ruf des Hausherrn.

© Angela Nowicki, September 2007

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