Sonntag, 18. September 2011

Die Erhebung

Ich stand lange, lange in der weltfernen Berglandschaft und nahm sie ganz in mich auf. Vollkommene Ruhe. Vollkommene Schönheit.

Als ich mich umwandte, betrat ich sogleich den kreuzgangähnlichen Eingang zur Felskathedrale. Die große Halle war von Licht durchflutet. Ich rief meine Schildkröte Hulda, und sie kam auch gleich, löste sich aber immer wieder auf und erschien, als hätte ich nicht genug Kraft, sie zu halten. Andere Bilder gerieten dazwischen, ein Meer... Ich wollte das nicht. Ich begrüßte Hulda und fragte sie, was sie meine: Waren die vorbewusst werdenden Bilder der letzten Reise der Beginn eines visuellen Entdeckungsprozesses, oder war das alles, was ich brauchte? Soll ich nochmals ins Unbewusste tauchen? Wo Hulda stand, sah ich dicht gekräuselte goldene Energiewellen schubweise über den Boden fluten.
"Das ist kosmische Energie", sagte Hulda in meinem Gehirn.
Ich sah deutlich, wie die kleine Schildkröte wieder in einer Aureole von einem starken Lichtstrahl nach oben gezogen wurde und ich hinterher. Während des ganzen Aufstiegs sah ich Huldas runden Panzer vor mir.

Draußen lautete die erste Botschaft, das Beste sei, erst einmal meine Chakras ordentlich aufzubauen. Aber wenn ich wolle, könne ich natürlich noch einmal ins Unbewusste abtauchen. Der Abstieg bzw. Absturz war dieses Mal lange nicht so deutlich wie vor einer Woche. Ich merkte gar nicht richtig, wie ich im Meer landete, da schwamm ich schon unter Wasser.

Wieder geriet ich an die Grenze zwischen Un- und Vorbewusstem. Heute war sie viel dünner, und der vorbewusste Raum war hell erleuchtet: Das war das Licht des Bewusstseins, das ihn fast ganz ausleuchtete, nur ein schmaler vertikaler, sich in Kurven nach unten windender Spalt blieb dunkel. Ich hörte Huldas Botschaft, sie könne mir allerdings nicht versprechen, dass heute etwas aus dem Unbewussten auftauchen werde.

In der Tat blieb lange alles leer. Dann wurde ich weggesogen.
"Lass es geschehen!" sagte Hulda. "Versuche nicht, Bilder zu erkennen, schaue einfach nur!"
Es war, als bliebe ich unbeweglich an der Grenze des Unbewussten, während ich gleichzeitig passiv durch Welten gezogen wurde.
Viele Bilder erkannte ich tatsächlich nicht.

Einmal geriet ich in ein Zimmer vor ein Bett, darin lag ein indisch aussehendes Mädchen. Sie war ganz grazil und hatte langes, dichtes, schwarzes Haar. Ich hatte das Gefühl, mich selbst in einer vergangenen Inkarnation zu sehen. Das Mädchen stand auf und lief aus dem Zimmer, als suche sie ihre Eltern. Sie wurde immer kleiner und verschwand, und ich blickte auf eine dunkelrot leuchtende indische Landschaft in der Abendsonne.

Später erkannte ich eine dickliche, ältere Frau, die auf einer Bank saß, vielleicht an einer Busstation, denn es saßen viele Leute um sie herum. Ich sah ihren kräftigen, kurzen Arm, als sie sich nach vorn beugte, um nach ihrer Einkaufstasche zu greifen. Urplötzlich fühlte ich mich so intensiv vertraut mit dieser Frau, dass mir fast die Tränen kamen. Als sei sie einmal meine Mutter gewesen.

Nach weiteren unkenntlichen Bildern erschien ein endlos weites Meer vor meinen Augen. Diese Vision war so deutlich, dass mich ein regelrechter Energieschock durchflutete. Das Meer hatte eine unbeschreibliche Farbe - Oktarin? Ich sah die letzten Sekunden eines furiosen Sonnenuntergangs, und dann glänzte das Meer unter einem rot-orangen Himmel.

Und dann... dann wurde ich in einen riesigen Trichter nach oben hineingezogen, der war von einem solchen leuchtenden Blau, wie ich es in meinem Leben noch nicht gesehen habe. Blau, das in Violett überging. In dieses Violett wurde ich hineingezogen. Ich sah die Erde unter mir, stieg immer höher. Ich sah den Planeten unter mir entschwinden, und die Kontinente leuchteten türkis. Ich wusste: Jetzt bin ich in meiner Seele.
Nach einer Weile fluteten unter mir wieder die dicht gekräuselten, goldenen Energiewellen wie in der Kathedrale.
"Das sind die Elemente", vernahm ich.
Also Wasser, denn es folgten ein orangerot loderndes Feuer und danach übereinander geschobene vertikale Schichten in verschiedenen Blautönen, die sich horizontal durch den Raum schoben. Das war Luft.
Und Erde? Da fragte mich meine Seele... nein, eigentlich fragte sie nicht; es war wie ein gegenseitiges Zunicken, dass ich selbstverständlich wieder zur Erde zurückkehre. Als sei es so abgesprochen. Im selben Moment fuhr ich wie eine Furie in einen Sarg aus roten Ziegeln ein, der sich jedoch sogleich erweiterte und in eine ziegelrote Landschaft überging, die wiederum in orangefarbene Wasserwogen mündete. Daraus führte ein hellgrüner Weg, der später rosa wurde, durch eine gelbe Landschaft.
Ich wusste auf einmal und verstand wortlos: Durch meine inneren Bilder und meine kosmische Nabelschnur war ich zu meiner Seele gekommen, und nun inkarnierte ich ein weiteres Mal. Unsere Wurzeln in dieser Erde sind im Vergleich zum Ganzen ein Sarg, doch ein lebendiger Sarg, der sich durch unsere Gabe der sinnlichen Wahrnehmung und des Fühlens öffnet und uns die Schönheit der Erde erfahren lässt. Der Weg durch all diese Wirren aus Macht und Ohnmacht, Ego und Schicksal aber ist die Liebe.

Was ich dort sah und erlebte, war eine Erhebung – ein unbeschreibliches, feierliches Gefühl, als sei mein ganzes Leben zusammen mit der Welt, wie ich sie sah, geheiligt worden.

Weitere Bilder wirbelten um mich herum, doch ich hatte genug gesehen.
"Ich bin raus", sagte ich laut. "Ich möchte zurück."
Es gab keinen Rückweg. Nach kurzer Zeit waren die Welten einfach verschwunden, und ich fand mich an der Grenze zu meinem Unbewussten wieder. Ich wusste, ich hatte mich während der ganzen Zeit nicht von der Stelle bewegt.

Der Aufstieg ging recht schnell, und ohne dass ich recht wusste, wie mir geschah, befand ich mich mit Hulda wieder in der Kathedrale. Ich sah sie nach mir mit ihrer Aureole in dem Lichtkegel absteigen. Ich wollte es mir mit ihr bequem machen, um zu verschnaufen und die eben erhaltenen Eindrücke im Gespräch zu verarbeiten, doch Hulda zeigte sich seltsam ungeduldig und jagte mich nahezu hinaus. Es gelang mir kaum, mich von ihr zu verabschieden. Ich hörte sie nur sagen, ich solle DAS jetzt aber erst einmal gründlich verarbeiten, bevor ich zur nächsten Reise käme.

© Angela Nowicki, 12. Juli 2010

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